Alles bleibt unwirklich


— Hello out there —

Es war heute Morgen 8:23h als ich das erste Mal darüber nachdachte, mir den selbstgemachten Oster-Eierlikör meines Bruders in den Kaffee zu schütten. Warum auf Feierabend und den Wein warten? Was unterscheidet einen Montag von einem Samstag, oder ein Freitagabend von einem Dienstagmorgen? Aus der Freude über unseren Großeinkauf vor wenigen Wochen (‚Wow! Wir haben das erste Mal Essen für zwei Wochen im Haus!‘) wurde ein ‚Wir müssen wieder einkaufen gehen!‘. Klar wenn man den ganzen Tag in der Wohnung verbringt und nicht viel zu tun hat, außer zu essen. Wenn wir rausgehen, fühle ich mich immer noch nicht wohl und wieder mit dieser Welt verbunden, nicht mit und schon gar nicht ohne Maske. Es ist sehr schwer vorstellbar, wie ältere Mitmenschen oder generell Menschen sich fühlen, die alleine leben. Ich habe wenigstens ein ‚Uns‘ und kann meine Ängste und Sorgen teilen.

Während ich gemütlich mit Buch und Kuchen auf dem Sofa liege und mich frage, ob meine Frisur (?) jetzt dem hippen Balayage-Look entspricht, oder einfach nur rausgewachsene Strähnen sind, denke ich an die, die unser Leben am Laufen halten und nicht zu Hause bleiben können. Mit den gleichen Ängsten und Sorgen und trotzdem weitermachen. Das Klatschen wurde langsam leiser, jetzt ist es ganz verstummt und ich schließe mich nicht aus, auch wir klatschen nicht mehr.

Seit ein paar Tagen habe ich entdeckt, dass das Ausschalten diverser Pushbenachrichtigungen mir eine große Hilfe ist, wenn man versucht, diese verrückte Welt zu verstehen. Wir alle haben Smartphones, die fast alles können. Spielen, fotografieren, Videochatten, uns daran erinnern, wann es Zeit ist, etwas zu trinken und sie sollen uns an Geburtstage erinnern, die wir dann trotzdem vergessen. Wir können uns damit Essen von praktisch jedem Restaurant, das wir unterstützen möchten, zu uns nach Hause liefern lassen. Das klingt alles ziemlich gut.

Ein Freund hat uns zu Ostern eine Spotify-Liste geschickt, „It’s my life“ mit 1.107 Songs. Das sind 73 Stunden und 55 Minuten Musik. Es muss in 2000 gewesen sein, als ich (damals noch zu Hause in Frankfurt) mit einem 56K Modem in meinem kleinen Wohnzimmer saß, mich an AOL erfreute und das Herunterladen von Modjo’s „Lady“ über Napster drei Stunden dauerte. Lied Nummer 112 der Liste gefällt mir sehr, ich packe es auf meine Spotify-Liste „Running“ und frage mich, wann genau ich mit dem „Running“ denn anfangen möchte. Das rennende Emoji dahinter motiviert nicht so wie gedacht und auch wenn all die Maßnahmen, die getroffen werden nicht schön, umständlich, zu vernünftig (aber notwendig), alles richtig oder vieles falsch ist – es könnte immer schlimmer sein.

Ich weiß noch nicht, was all das mit meiner und unser aller Psyche macht, wenn wir bald nur noch Masken-Gesichter, aber nicht unsere Familien und Freunde sehen. Ich beschäftige mich wieder mit Fotografie, schreibe auf, was mein Kopf denkt, lenke mich ab mit Lesen und „Ja“ – Instagram. Ich habe in den letzen Wochen so viele Bilder mit Einrichtungsinspirationen gespeichert, dass unsere nächste Wohnung nicht drei sondern 54 Zimmer haben muss. Mindestens. Der gefühlt minütliche Klick auf den Aktualisierungsbutton der Immobilienportale verselbständigt sich und lässt einen Teil meines Gehirns überflüssig werden. Ich kann mich immer schlechter konzentrieren, schweife schnell ab. Wir denken nach etwas mehr als zwei Jahren wieder über einen Hund nach. Werden wir ihm überhaupt gerecht, wenn wir in Zeiten wie diesen glauben unser Leben im Griff zu haben, nur weil wir mehr als vier Rollen Toilettenpapier im Vorratsschrank haben und das auch nur, weil Mama ein Paket mit der Post aus Bayern geschickt hat? Meine Gedanken werden unterbrochen, weil ein Kollege während der Telefonkonferenz hustet. Jemand sagt scherzhaft, er solle lieber auflegen. Ein leises Lachen. Alles bleibt unwirklich.

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